Grimnismal … Das Grimirlied

G r ì m n i s m à l

Das Grimnirlied

Bei diesem Liede, das wir zu den größeren Merkgedichten zählen, kommt die Belehrung aus Odins Munde; was sie umfaßt hat, ist schwer zu sagen, denn von den 54 überlieferten Strophen ist vieles Zutat. Es ist kein streng einheitlicher Lehrstoff, nur zur Hälfte zielt er auf den Sprechenden, Odin. Die Merkdichtung ist eben Selbstzweck, und der Gedanke der allmählichen Enthüllung des Gastes beherrscht die Auswahl nicht. Gleichwohl haben viele der Strophen eine Feierlichkeit, die mehr nach Orakel oder Denkstein klingt als nach gereimter Schulregel. Anfang und Schluß, nebst einer Beigabe in Prosa, gestalten eine Rahmengeschichte. Es ist eine der Fabeln, die den auf Erden wandernden Odin als Erprober und Verderber irdischer Könige zeigen (vgl. Nr. 24 / Heidrecksrätsel).

Heusler

 

Odin wollte den König Geirröd, seinen Schützling, prüfen, ob er gastfrei sei gegen Fremde. Er kam unerkannt, in dunkelblauem Mantel, an Geirröds Hof und nannte sich Grimnir; auf weitere Fragen antwortete er nicht. Der verblendete König hielt den Mann für einen bösen Zauberer, denn kein Hund wagte sich an ihn. Er wollte ihn zwingen, ihm Rede zu stehn, und ließ ihn zwischen zwei Feuer setzen im Mittelraum der Halle. So saß Grimnir acht Tage und Nächte, und nur Agnar, der zehnjährige Sohn des Königs, bot ihm Speis und Trank und sagte zu seinem Vater, er handle schlecht, daß er den Mann schuldlos peinige. Am neunten Tage sprach Grimnir:

1.
Heiß bist du, Feuer,
und viel zu hoch;
weich, Flamme, fort!
Es glimmt mein Pelz,
heb ich gleich ihn hoch;
es brennt der Mantel mir.
2.
Acht Nächte
saß ich nah den Feuern,
da mir niemand Nahrung bot,
als einzig Agnar,
der Erbe Geirröds,
der das Heervolk beherrschen soll.
3.
Heil wird dir, Agnar,
da Heil dir beut
des Heldenvolks Herr:
bessern Lohn
eines Bechers sollst du
nehmen nimmermehr.
4.
Das Land ist heilig,
das ich liegen seh
den Asen und Alben nah;
doch in Thrudheim
wird Thor weilen,
bis die Götter vergehn.
5.
Eibental heißt es,
wo Ull seinen Saal
sich hingesetzt hat;
Albenheim gaben
die Asen Freyr
vor Zeiten als Zahngeschenk.
6.
Dieser Hof ist der dritte,
wo holde Götter
mit Silber den Saal deckten:
Walaskjalf heißt er,
ihn wirkte sich
der Ase in Urtagen.
7.
Kleinodbank heißt der vierte,
doch kühle Wellen
rauschen über ihm.
Odin und Saga
trinken dort alle Tage
glücklich aus Goldbechern.
8.
Frohheim ist der fünfte,
wo die funkelnd goldene
Walhall weit sich dehnt;
Odin aber
kiest alle Tage
kampftote Krieger dort.
9.
Kund ist er allen,
die zu Odin kommen,
den Saalbau zu sehen:
Schilde sind die Schindeln,
Schäfte sind die Sparren,
es decken Brünnen die Bank.
10.
Kund ist er allen,
die zu Odin kommen,
den Saalbau zu sehen:
ein Wolf hängt
westlich vom Tor,
ein Aar schwebt über ihm.
11.
Thrymheim heißt der sechste,
wo Thjazi wohnte,
der furchtbare Frostriese;
nun haust Skadi,
die herrliche Götterbraut,
in dem alten Ahnenhof.
12.
Breitglanz heißt der siebente,
dort hat Balder sich
die Halle hingebaut;
auf jener Flur,
der Freveltat
nimmer nahen mag.
13.
Himmelsburg heißt der achte,
wo Heimdall lange
des Weihtums walten soll;
im behaglichen Haus
trinkt herrlichen Met
dort gerne der Götterwart.
14.
Folkwang heißt der neunte,
doch Freyja waltet
dort der Sitze im Saal;
Tag für Tag
kiest sie der Toten Hälfte,
doch die andre fällt Odin zu.
15.
Glastheim heißt der zehnte,
von Gold sind die Pforten
und von Silber das Saaldach;
doch Forseti
wohnt dort viele Tage
und stillt allen Streit.
16.
Noatun heißt der elfte,
doch Njörd hat dort
sich die Halle hingesetzt,
der Fürst der Menschen,
des Frevels bar,
er waltet hohes Heiligtums.
17.
Gesträuch wächst
und starkes Gras
auf Widars Waldgebiet;
auf Rosses Rücken,
zu rächen den Vater,
verheißt dort der Heldensohn.
18.
Rußgesicht
läßt den Rußsschwarz sieden
im Kessel Kohlenruß,
das beste Fleisch,
doch nicht viele wissen,
was sie essen, die Einherjer.
19.
Geri und Freki
atzt der vielberühmte,
der kampfstolze Kriegergott;
doch von Wein nur
lebt der waffenstrahlende
Odin immerdar.
20.
Hugin und Munin
fliegen manchen Tag
den Erdengrund ab;
für Hugin fürcht ich,
daß er heim nicht kehre,
doch sorg ich um Munin noch mehr.
21.
Es rauscht Thund,
des Riesenwolfs Fisch
schwimmt froh in der Flut;
zu scharf scheint
der Schar der Waltoten
zu durchstapfen die Strömung.
22.
Walgitter heißt es,
das vor geweihtem Tor
heilig sich erhebt;
alt ist das Gitter,
es ahnen nicht viele,
wie es der Schlüssel verschließt.
23.
Fünfhundert Vorräume
und vierzig dazu
kenn ich in Bilskirnirs Bau,
von diesen Häusern,
die unter Dach ich weiß,
hat mein Mage das mächtigste.
24.
Fünfhundert Tore
und vierzig dazu
kenn ich in Walhall wohl;
achthundert Einherjer
gehn auf einmal aus jedem,
wenn’s mit Fenrir zu fechten gilt.
25.
Heidrun heißt die Geiß,
die auf der Halle steht
und von Lärads Laube frißt;
mit klarem Met
soll sie die Kannen füllen,
nie vertrocknert der Trank.
26.
Eichdorn heißt der Hirsch,
der auf der Halle steht
und von Lärads Laube frißt;
von seinem Geweih
träuft es ins Wallebecken,
davon kommen die Quellen all.
27.
Körmt und Örmt
und die Kerlauge zwei
durchwatet täglich Thor,
wenn er auszieht,
Urteil zu fällen,
zur Esche Yggdrasil;
denn die Brücke der Asen
brennt in Flammen,
und heiß sind die Himmelswasser.
28.
Gelber und Muntrer,
Glanz und Hufschnell,
Sehnig und Silberstirn;
Gleißner und Fahlhuf,
Goldstirn und Leichtfuß:
auf diesen reiten die Rater
alle Tage,
wenn sie zu urteilen ziehn
zur Esche Yggdrasil
29.
Drei Wurzeln
gehn nach drei Seiten
von der Esche Yggdrasil;
Hel wohnt unter einer,
unter der andern die Reifthursen,
unter der dritten der Degen Volk.
30.
Nagezahn heißt das Eichhorn,
das Immer rennt
auf der Esche Yggdrasil:
von oben her
soll es des Adlers Worte
zu Nidhögg niedertragen.
31.
Hirsche gibt es vier,
die mit erhobnem Kopf
die Knospen kahlfressen:
Dain und Dwalin,
Duneyr und Dyrathror.
32.
Mehr Würmer
liegen an den Wurzeln Yggdrasils,
als ein Unweiser ahnt:
Goin und Moin,
Grafwitnirs Söhne,
Grabak und Grafwöllud,
Ofnir und Swafnir
sollen immerdar
zerfressen die Faserwurzeln.
33.
Die Esche Yggdrasil
muß Unbill leiden
mehr als man meint,
der Hirsch äst den Wipfel,
die Wurzeln nagt Nidhögg,
an den Flanken Fäulnis frißt.
34.
Hrist und Mist
sollen das Horn mir bringen,
Skeggjöld und Skögul,
Hild und Thrud,
Hlökk und Heerfessel,
Göll und Geirahöd,
Randgrid und Radgrid
und Reginleif,
die bringen den Einherjern Äl.
35.
Arwakr und Alswinn,
von der Erde hinauf
sollen sie die Sonne ziehn;
unter der Hengste Bug
bargen holde Rater,
die Asen, Erzkühle.
36.
Sänftiger heißt er,
der Sonne Schild,
der vor der Strahlenden steht;
Berge und Brandung
müßten verbrennen ganz,
wenn er von ihr fällt.
37.
Trug heißt der Wolf,
der bis zu des Waldes Schutz
die funkelnde verfolgt;
der andre, Hasser,
der Erbe Fenrirs,
läuft vor der heitern Himmelsbraut.
38.
Aus Ymirs Fleisch
ward die Erde geschaffen,
aus dem Blute das Brandungsmeer,
das Gebirg aus den Knochen,
die Bäume aus dem Haar,
aus der Hirnschale der Himmel.
39.
Aus des Riesen Wimpern
schufen Rater hold
Midgard den Menschensöhnen;
aus des Riesen Gehirn
sind die rauhgesinnten
Wolken alle gewirkt.
40.
Der hat Ulls Huld
und aller Götter,
der zuvorderst zum Feuer greift;
denn offen sind die Heime,
hebt man ab die Kessel,
allen Asensöhnen.
41.
Iwaldis Söhne
gingen in Urtagen
zu schaffen Skidbladnir,
das beste Schiff,
dem schimmernden Freyr,
Njörds gesegnetem Sohn.
42.
Die Esche Yggdrasil
ist der erste der Bäume,
doch Skidbladnir der Schiffe,
der Rater Odin,
der Rosse Sleipnir,
der Brücken Bilröst,
doch Bragi der Skalden,
der Habichte Habrok,
doch der Hunde Garm.
43.
Vor der Sieggötter Söhnen
tat ich Gesichte nun kund;
das weckt heilsame Huld:
allen Asen
soll es eingehen
auf Ägirs Bank,
bei Ägirs Trank.
44.
Grim hieß ich,
Gangmatt hieß ich,
Herrscher und Helmträger,
Walvater, Allvater,
Wunschherr und Graubart,
Har und Heerblender.
45.
Trunken bist du, Geirröd,
zu gierig trankst du,
verstört ist dein Verstand;
manches verlorst du,
da du meiner Gunst
und Gefolgeschaft ferne bleibst.
46.
Ich wies dir vieles,
doch wenig verstandest du:
dich läßt fallen dein Freund;
liegen seh ich,
besudelt mit Blut,
meines Schützlings Schwert.
47.
Schwertmüde Beute
soll der Schlachtgott haben:
dein Leben verlierst du nun;
unhold sind dir die Disen,
jetzt kannst du Odin sehn:
nun komm, wenn du kannst.
48.
Odin heiß ich jetzt,
hieß einstmals Schrecker,
hieß vor Zeiten der Zürnende,
Einschläfrer, Fessler:
mich dünkt, daß alles dies
einzig mich nur meint.

König Geirröd hatte dagesessen, das Schwert, halb gezückt, über den Knien. Als er aber hörte, daß es Odin war, sprang er auf und wollte ihn vom Feuer wegnehmen. Da glitt ihm das Schwert aus der Hand, der Knauf nach unten: der König stolperte und stürzte darein, das Schwert ging durch ihn durch: das war sein Tod. Jetzt verschwand Odin. Aber Agnar wurde König im Lande und herrschte lange.

Die Genzmer’sche Übersetzung stammt aus Die Edda: Götterdichtung, Spruchweisheit und Heldengesänge der Gemanen, Diederichs Verlag, München, 1992