Die Runenlehren

Die Runenlehren

A. Die Entstehung der Runen

1
Zeit ist’s zu raunen
auf dem Rednerstuhl
an dem Urborn Urds.
Ich schaute und schwieg,
ich schaute und sann,
lauscht auf der Männer Mund:
2
Von Runen hört ich reden –
sie verrieten die Deutung
vor der Halle Hars;
in der Halle Hars
hört ich sagen so:
3
Runen sollst du finden
und rätliche Stäbe,
gar stolze Stäbe,
gar starke Stäbe,
die gerötet der Redeherr
und gewirket Weltmächte
und geritzt der Raterfürst.
4
Dann zeigt sich’s recht,
wenn du nach Runen fragst,
den raterentsprossnen,
wie sie wirkten Waltmächte,
und sie zog der Zauberherr:
wer Verstand hat, bleibt stumm.

B. Odins Runenerwerbung

1
Ich weiß, daß ich hing
am windigen Baum
neun Nächte lang,
mit dem Ger verwundet,
geweiht dem Odin,
ich selbst mir selbst,
an jenem Baum,
da jedem fremd,
aus welcher Wurzel er wächst.
2
Sie spendeten mir
nicht Speise noch Trank;
nieder neigt ich mich,
nahm auf die Runen,
nahm sie rufend auf;
nieder dann neigt ich mich.
3
Neun Hauptlieder
lernt ich vom hehren Bruder
der Bestla, dem Böthornsohn;
von Odrörir,
dem edelsten Met,
tat ich einen Trunk.
4
Zu wachsen begann ich
und wohl zu gedeihn,
weise ward ich da;
Wort mich von Wort
zu Wort führte,
Werk mich von Werk
zu Werk führte.
5
Nun sind Hars Reden
in seiner Halle gesagt,
gar rätlich Reckensöhnen,
nicht rätlich Riesensöhnen.
Heil, der sie wies!
Heil, der sie weiß!
Er wahre sie wohl!
Heil, die sie hörten!

C. Die Ausbreitung der Runen

1
Sie schuf er,
sie schnitt er,
sie ersann Siegvater,
durch den Trank,
der getropft war
aus Heiddraupnirs Haupt
und aus Hoddrofnirs Horn.
2
Sie wirkt er,
sie webt er,
sie alle setzt zusammen er
auf dem Thing,
da die Degen ziehn
zu gerechtem Gericht.
3
Auf dem Berg stand er
mit Brimirs Schneiden,
trug auf dem Haupt den Helm;
da sprach Mimirs Mund
wahres Weisheitswort
und redete Runenkunde:
4
Runen sollst du lernen
und rätliche Stäbe,
Stäbe gar stark,
Zeichen voll Zauberkraft,
wie sie zog der Zauberherr,
wie sie wirkten Weihgötter,
wie sie ritzte der Raterfürst.
5
Dain bei den Alben,
Dwalin bei den Zwergen,
Odin im Asenreich,
Alswinn im Jötenreich;
auch ich ritzte einige.
6
So ritzte Thund
vor der Tage Beginn;
dort erhob er sich,
von wo heim er kam.
7
Abgeschabt waren alle,
die eingeritzt waren,
und in den mächtigen Met gemischt,
und weiten Weg gesandt;
die sind bei den Asen,
die sind bei den Alben,
die bei weisen Wanen,
die in der Menschen Macht.

D. Wo Runen stehen

Auf den Schild sind sie geritzt,
der steht vor der schimmernden Göttin,
auf Arwakers Ohr
und auf Alswinns Huf,
auf das Rad, das sich dreht
unter des Donners Wagen,
auf Sleipnirs Zähne
und die Zunge Bragis,
auf des Schlittens Kufen
und den Schnabel des Adlers,
auf des Bären Pranke
und die Pfoten des Wolfes,
auf blutige Schwinge
und der Brücke Stoss,
auf der Heilbringerin Hand
und der Helferin Spur,
auf Glas und auf Gold
und auf guten Kleinod,
in den Wein und ins Bier
und auf gewohnten Sitz,
auf Gungnirs Spitze
und auf Granis Brust,
auf der Norne Nagel
und der Nachteule Schnabel.

E. Runengebrauch

1
Siegrunen lerne,
willst du Sieg haben!
Auf den Schwertknauf schneide sie,
auf die Blutrinne
und des Rückens Breite
und ruf zweimal zu Tyr!
2
Älrunen lerne,
soll eines anderen Weib
nicht trügen dein Vertrauen!
Aufs Horn soll man sie ritzen
und auf den Handrücken
und ziehn auf den Nagel ‚Not‘.
3
Den Becher soll man segnen
und vor bösem sich schirmen,
werfen Lauch in den Labetrank;
dann bin ich gewiß,
daß Böses dir nicht
gemischt wird in den Met.
4
Gebärrunen brauche,
willst zur Geburt du helfen,
lösen das Kind vor der Kreissenden!
Auf die Hand soll man sie graben
und um die Glieder sie spannen,
bei den Disen Gedeihn erflehn.
5
Brandungsrunen brauche, wenn du bergen willst
auf der Fahrt das Flutenroß!
Man brennt sie auf den Steven
und auf des Steuers Blatt
und ritzt auf die Ruder sie.
Nicht ist so schwer die Brandung
noch so schwarz die Woge:
zum Hafen kommst du heil.
6
Astrunen lerne,
wenn ein Arzt du sein
und Krankheit erkennen willst!
Man ritzt sie auf die Borke
und des Baumes Gezweig,
der ostwärts die Äste streckt.
7
Rederunen lerne,
soll kein Recke ein Leid
grimmig vergelten dir!
8
Denkrunen lerne,
soll der Degen keiner
deinen Verstand bestehn!
9
Das sind Buchenrunen,
das sind Gebärrunen
und alle Älrunen
und köstliche Kraftrunen
dem, der sie unversehrt
und unverstört
sich zum Heil behält.
Nütz es, vernahmst du’s,
bis die Götter vergehn!

F. Runenzauber an Toten

Oft kommt heilsamer Rat
aus hartem Balg,
der bei Häten hängt
und bei Fellen flattert
und baumelt bei Bösewichten.

G. Runenweissagung

Weißt du zu ritzen?
Weißt du zu raten?
Weißt du zu färben?
Weißt du zu fragen?
Weißt du zu wünschen?
Weißt du zu weihen?
Weißt du zu schicken?
Weißt du zu schlachten?

 

Die Genzmer’sche Übersetzung stammt aus Die Edda: Götterdichtung, Spruchweisheit und Heldengesänge der Gemanen, Diederichs Verlag, München, 1992