Hrafnagaldr Ôdhins
Odins Rabenzauber
| 1 Allvater waltet, Alfen verstehn, Wanen wissen, Nornen weisen, Iwidie(1) nährt, Menschen dulden, Thursen erwarten, Walküren trachten. |
2 Die Asen ahnten übles Verhängnis, Verwirrt vom widrigen Winken der Seherin. Urda sollte Odhrärir(2) bewachen, Wenn sie wüßte so großen Schaden zu wehren. |
| 3 Auf hub sich Hugin den Himmel zu suchen; Unheil fürchteten die Asen, verweil er. Thrains Ausspruch ist schwerer Traum, Dunkler Traum ist Dain(3) Ausspruch. |
4 Den Zwergen schwindet die Stärke. Die Himmel Neigen sich nieder zu Ginnungs(4) Nähe. Alswidr läßt oftmals sie sinken, Oft die sinkenden hebt er aber empor. |
| 5 Nirgends haftet Sonne noch Erde, Es schwanken und stürzen die Ströme der Luft. In Mimirs klarer Quelle versiecht Die Weisheit der Männer. Wißt ihr was das bedeutet? |
6 Im Tale weilt die vorwissende Göttin Hinab von Yggdrasils Esche gesunken, Alfengeschlechtern Idun(5) genannt, Die Jüngste von Iwalts ältern Kindern. |
| 7 Schwer trägt sie dies Niedersinken Unter des Laubbaums Stamm gebannt. Nicht behagt es ihr bei Nörwis Tochter(6), An heitere Wohnung gewöhnt so lange. |
8 Die Sieggötter sehen die Sorge Nannas(7) Um die niedre Wohnung: sie geben ihr ein Wolfsfell. Damit bekleidet verkehrt sie den Sinn, Freut sich der Auskunft, erneut die Farbe. |
| 9 Wählte Widrir(8) den Wächter der Brücke, Den Giallerertöner(9) die Göttin zu fragen Was sie wisse von den Weltgeschicken. Ihn geleiten Loptr(10) und Bragi. |
10 Weihlieder sangen, auf Wölfen ritten Die Herrscher und Hüter der Himmelswelt. Odhin spähte von Hlidskialfs Sitz Und wandte weit hinweg die Zeugen. |
| 11 Der Weise fragte die Wächterin des Tranks, Ob von den Asen und ihren Geschicken Unten im Hause der Hel sie wüßten Anfang und Dauer und endlichen Tod. |
12 Sie mochte nicht reden, nicht melden konnte sies: Wie begierig sie fragten, sie gab keinen Laut. Zähren schossen aus den Spiegeln des Haupts, Mühsam verhehlt, und netzten die Hände. |
| 13 Wie schlafbetäubt erschien den Göttern Die Harmvolle, die des Worts sich enthielt. Je mehr sie sich weigerte, je mehr sie drängten; Doch mit allem Forschen erfragten sie nichts. |
14 Da fuhr hinweg der Vormann der Botschaft, Der Hüter von Herians gellendem Horn. Den Sohn der Nal(11) nahm er zum Begleiter; Als Wächter der Schönen blieb Odhins Skalde(12). |
| 15 Gen Wingolf(13) kehrten Widrirs Gesandte, Beide von Forniots Freunden(14) getragen. Eintraten sie itzt und grüßten die Asen, Yggrs Gefährten beim fröhlichen Mahl. |
16 Sie wünschten dem Odhin, dem seligsten Asen, lang auf dem Hochsitz der Lande zu walten; Den Göttern, bei Gastmal vergnügt sich zu reihen, Bei Allvater ewiger Ehren genießend. |
| 17 Nach Bölwerks(15) Gebot auf die Bänke verteilt, Von Sährimnir speisend saßen die Götter. Skögul schenkte in Hnikars Schalen(16) Den Met und maß ihn aus Mimirs Horn. |
18 Mancherlei fragten sie über dem Mahle Den Heimdal die Götter, die Göttinen Loki, ob Spruch und Spähung gespendet die Jungfrau – Bis Dunkel am Abend den Himmel deckte. |
| 19 Übel, sagten sie, sei es ergangen, Erfolglos die Werbung, und wenig erforscht. Nur mit List gewinnen ließe der Rat sich Daß ihnen die Göttliche Auskunft gäbe. |
20 Antwort gab Omi(17), sie Alle hörten es: „Die Nacht ist zu nützen zu neuem Entschluß. Bis Morgen bedenke wer es vermag Glücklichen Rat den Göttern zu finden.“ |
| 21 Über die Wege von Wallis(18) Mutter Nieder sank die Nahrung Fenrirs(19). Vom Gastmal schieden die Götter entlassend Hroptr(20) und Frigg, als Hrimfai auffuhr. |
22 Da hebt sich von Osten aus den Eliwagar des reifkalten Riesen(21) dornige Rute, mit der er in den Schlaf die Völker schlägt, die Midgard bewohnen, vor Mitternacht. |
| 23 Die Kräfte ermatten, ermüden die Arme, Schwindelnd wankt der weiße Schwertgott(22). Ohnmacht befällt sie in der eisigen Nachtluft, die Sinne schwanken der ganzen Versammlung. |
24 Da trieb aus dem Tore wieder der Tag Sein schön mit Gestein geschmücktes Roß; weit über Mannheim glänzte die Mähne: Des Zwergs Überlisterin(23) zog es im Wagen. |
| 25 Am nördlichen Rand der nährenden Erde Unter des Urbaums äußerste Wurzeln Gingen zur Ruhe Gygien und Thursen(24). Gespenster Zwergen und Schwarzalfen. |
26 Auf standen die Herrscher und die Alfenbestrahlerin(25). Die Nacht sank nördlich gen Nifelheim. Ulfrunas(26) Sohn stieg Argiöl(27) hinan, Der Hornbläser, zu den Himmelsbergen. |
Anmerkungen
| 1 | Iwiedie, Waldgeister |
| 2 | Ödhrörir (Geistanreger), göttlicher Met, Unsterblichkeitstrank; wird von der Norne Urd bewahrt |
| 3 | Dain und Thrain, Zwerge (vgl. Völupsa, Strophen 11 und 12) |
| 4 | Ginnung, Ginnungagap, die Leere, Urzustand |
| 5 | Idun, Tochter des Zwergs Iwalt; symbolisiert die Vegetation und verwahrt die goldenen Äpfel (Lebensspeise der Götter). Hier verschmilzt sie mit Urd, die den Lebenstrank bewahrt. |
| 6 | Nörwis Tochter, die Nacht |
| 7 | Nanna, Baldurs Frau, Blütengöttin; hier als Synonym für Idun |
| 8 | Widrir, Odin |
| 9 | Giallarertöner, Heimdall |
| 10 | Loptr, Loki |
| 11 | Nal, Lokis Mutter, auch Laufey |
| 12 | Skalde, Bragi |
| 13 | Wingolf, Sitz der Götinnen |
| 14 | Horniots Freunde, die Elemente Wasser, Feuer Luft |
| 15 | Bölwerk, Odin |
| 16 | Hnikars Schalen, Odins Trinkgefäße, in denen die Walküre Skögul Met ausschenkt |
| 17 | Omi, Odin |
| 18 | Wallis Mutter, Walis Mutter Rindr |
| 19 | Nahrung Fenrirs, der Mond |
| 20 | Hroptr, Odin |
| 21 | reifkalter Riese, Nörwi, der Vater der Nacht |
| 22 | der weiße Schwertgott, Heimdall |
| 23 | des Zwergs Überlisterin, die Sonne, von deren Strahl die Zwerge erstarren |
| 24 | Gygien und Thursen, Riesen |
| 25 | Alfenbestrahlerin, die Sonne |
| 26 | Ulfruna, eine der neun Mütter Heimdalls |
| 27 | Argiöl, Beiname der Himmelsbrücke Bifröst |
