Die weiße Frau auf dem Rabenstein

Burg Rabenstein (Chemnitz/Sa.)

Die weiße Frau auf dem Rabenstein

Es war zur Zeit der Kreuzzüge. Viele fromme Ritter zogen damals in ihren glänzenden Rüstungen auf gepanzerten Pferden ins ferne Morgenland, um mit dem Schwerte in der starken Faust den verhassten Heiden die Herrschaft über das Grab Jesu und über Jerusalem und das ganze Heilige Land zu entreißen. Aber auch ehrvergessene Raubritter gab es damals in den deutschen Landen. Durch eigene Faulheit und durch die fortwährenden Händel“ mit den Rittern ihrer Nachbarschaft waren sie verarmt. Ihre Felder lagen brach. Ihr Vieh war verwahrlost. Das, was sie zum Leben auf ihren Raubnestern brauchten, verschafften sie sich dadurch, dass sie Kaufleute, die auf großen Wagen die Waren ferner Länder nach ihrer Heimatstadt bringen wollten, überfielen, beraubten und töteten oder gefangen nahmen.
Just um diese Zeit wohnte auf der Burg Rabenstein ein Ritter mit Frau und Dienerschaft. Er hatte eine einzige Tochter. Sie war der Stolz und die Freude aller. Glockenhell klang ihr Lachen durch die Burg und den Park. Und keine Schönere gabs im ganzen Lande als das Burgfräulein vom Rabenstein. Von weit und breit kamen die jungen Ritter und begehrten sie zur Gemahlin. Zwei Ritter betrieben ihre Bewerbungen besonders eifrig. Das waren die von Waldenburg und von Neukirchen. Von dem Neukirchener mochte das Burgfräulein nichts wissen. Er war ein aufbrausender, jähzorniger Mann. Ein Gerücht erzählte sogar von ihm, dass er bisweilen auch im Stegreif säße. Da er jedoch ein sehr trinkfester Herr war wie der Rabensteiner Ritter, so hätte dieser ihn ganz gern als Tochtermann gesehen. Die schöne Rabensteinerin aber schenkte ihre ganze Huld dem Waldenburger, freilich gegen den ausdrücklichen Willen ihres Vaters. Den vereinten Bitten von Mutter und Tochter gelang es erst, seinen Widerstand zu brechen, nachdem einige Ruchlosigkeiten des Neukirchners zu Tage gekommen waren. Der ehrliche Burgherr von Rabenstein machte seinem Trinkkumpane gegenüber auch gar kein Hehl aus seiner veränderten Meinung.
Da kannte die Wut des Neukirchners keine Grenzen. Er schwur Rache. Auf gemeine, hinterlistige Weise bemächtigte es sich des Waldenburgers, ließ ihn auf seine Neukirchner Burg schleppen, ins Burgverlies werden und dort jämmerlich umkommen. Aber sein Rachedurst war noch nicht gestillt. Mit all seinen Reisigen brach er von Neukirchen auf und rückte nach Rabenstein, um die Feste zu belagern.
Dort sah es jetzt nicht mehr aus wie zu Beginn unserer Erzählung: Das schöne Burgfräulein hatte das Lachen gänzlich verlernt. Es weinte sich die Äuglein rot, nicht nur um ihren Geliebten. Auch die Schloßherrin, ihre Mutter war gestorben. Die Sorge um die Zukunft der Tochter und der Gram über die häufigen harten Worte ihres Gatten und über das grausame Schicksal des Waldenburger Ritters hatten sie ins Grab gebracht. Sie lag schon einige Wochen unter dem grünen Rasen, dort, wo heute die Mondscheinlinde steht. Das arme verwaiste Burgfräulein aß und trank nicht. Es saß von früh bis abends am Grabe der Mutter und weinte.
Da – der Turmwächter stößt ins Horn: Feindio!“ Mordio!“ Kommandorufe erklingen, und die Ketten der Zugbrücke rasseln. Die Brücke wird hochgezogen. Da schwirren auch schon die ersten Pfeile durch die Luft. Doch die Burgmannen sind der Neukirchner Übermacht nicht gewachsen. Mit Reißig und Stroh füllt der Feind an einigen Stellen den Wallgraben aus und ersteigt den Wall. Der Kampf wogt weiter bis in die Dämmerung hinein. – Horch! Kettengerassel! Richtig: Die Zugbrücke senkt sich. Jetzt, schöne Rabensteinerin, wehe dir! Der Erste, der auf die Brücke sprengt, ist der Neukirchner, seine Mannen mit Sieggeschrei hinter ihm drein. Doch, was ist das? Das Streitross des Neukirchner Siegers bäumt sich. Das Freudengeschrei verstummt plötzlich. Alles steht wie gebannt. Aller Augen sind, weit aufgerissen, nach der Mitte der Zugbrücke gerichtet. Ein Schauer geht durch die kampfgewohnte Schar der Mannen: Auf der Brücke, unmittelbar vor dem Ritter, steht eine weiße Gestalt, die die Knochenhand nach dem Zügel des Ritterrosses erhebt. Der Reiter drückt ihm die Sporen in die Weichen. Da springt es zur Seite und schleudert seinen Herrn aus dem Sattel. Der stürzt hinab in den Burggraben. Mit gebrochenem Genick bleibt er liegen. Das Pferd aber wendet sich, und in wildem Laufe geht es durch, zurück den Weg, den es kam, – und hinter ihm her die Neukirchner. Die weiße Frau!“ Die weiße Frau!“ Die weiße Gestalt hat sich – nach ihrer Überzeugung – an die Fersen der Fliehenden geheftet. Noch kurz vor ihrer Heimat Neukirchen soll sie hinter ihnen im Abenddunkel wahrzunehmen gewesen sein. –
So rächte der Geist der verstorbenen Schloßherrin die Freveltaten des Neukirchners.
Und was wurde aus dem armen lieben Burgfräulein? Das Kampfgetöse hatte sie zu sehr in Aufregung gebracht. Nach dem fluchtartigen Abzuge der Feinde hatte sie sich todesmatt an ihr Lieblingsplätzchen geschleppt, an das Grab ihrer Mutter. Dort fand sie auch ihren Vater. Lebend kam sie nicht wieder in die Burg ihrer Ahnen. Mit matter Stimme noch bittet sie Lass mich hier, beim Mütterlein, den langen Schlaft tun. Und hole mir meinen toten Herzallerliebsten aus dem Neukirchner Hungerturme, und vereine uns wenigstens im Tode“. Noch ein letzter Seufzer – und ein junges Leben, voll von Enttäuschungen, hat geendet.
Getreulich erfüllte der Ritter die letzten Wünsche seiner Tochter. Eine junge Linde pflanzte er auf das dreifache Grab. Dann aber leidet es ihn nicht mehr in den einsamen Mauern. Gerade jetzt wird in deutschen Landen wieder zum Kreuzzuge gerüstet. Er schließt sich den Kreuzfahrern an. – Vielleicht ist er im Heiligen Lande gefallen.
Kein Rabensteiner hat ihn je wieder gesehen. Aber als vor 60 und mehr Jahren der verlassene, öde Rittersaal noch als Obstkammer benutzt wurde, da hat mancher Wanderer zur mitternächtlichen Stunde aus der altersgrauen Ruine ein Poltern gehört, das ihn gruseln machte. Und um dieselbe Zeit konnten Glückskinder auch die weiße Frau“ um die Mondscheinlinde wandeln sehen. Und in den Zweigen der Linde singt der Wind seit Jahrhunderten das alte Lied von Liebe und Hass, von Glück und Tod.

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