Unterirdische Verteidigungsanlagen in Westsachsen

Unterirdische Verteidigungsanlagen in Westsachsen

Das geheimnisvolle Dunkel unterirdischer Gänge und Höhlen hat auf die Menschheit aller Zeiten, besonders aber auf die Jugend seinen Zauber ausgeübt. In den Pausen zwischen den Schulstunden besprachen wir leidenschaftlich die Möglichkeiten, den sagenhaften unterirdischen Gang vom Bergkloster in Chemnitz zum Kloster in der alten Stadt aufzufinden. Wir malten uns aus, welche Schätze und Altertümer wir dabei finden müßten, welchen tiefen Geheimnissen wir auf die Spur kommen und wie berühmt wir werden würden. Die eine Gruppe war dafür, von einem Haus in der Klosterstraße aus vorzudringen. Dort sollte sich in einem Keller der Eingang befinden. Anderen erschien der Gang vom Bergkloster aus besser zu begehen. Ein ganz Gerissener konnte sogar eine Skizze vorzeigen. Es ginge vom Bergkloster aus viele Stufen hinunter und unter dem Schloßteich weg. Das war zweifellos geflunkert. Aber was er sonst noch erzählte über seitliche Nischen der Gänge und über ihre Anlage in irreführenden Schleifen, traf auf Ganganlagen dieser Art zu, obwohl er damals zuverlässige Kenntnisse darüber garnicht haben konnte.
In den Ferien galt uns als bedeutendste Unternehmung der Besuch des unterirdischen Ganges, der von der Burg Gnandstein aus in unbekannte Ferne führt. Der Sage nach sollte er die Burg mit der Ruine Kohren verbinden. Die Dorfjugend wusste schaurige Geschichten von tückischen Fallen in Form von Abgründen zu erzählen, obwohl gerade sie bei unserer Expedition am Eingang stehen blieb. Jedenfalls war es für uns eine selbstverständliche Sache, daß in jedem der Abgründe dutzendweis die verrosteten Rüstungen darin umgekommener Ritter liegen mußten.
In späteren Jahren betrachtete man solche Anlagen durchweg nicht mehr so romantisch, auch wenn sie ihre Anziehungskraft nicht eingebüßt hatten. Man weiß, welche unendliche Mühe unter primitiven technischen Verhältnissen der Bau solcher, oft kilometerlanger Gänge erforderte. Man weiß, daß nur die dringendste Not den Menschen zu solcher, im Grunde genommen doch nutzloser, Arbeit veranlassen konnte. Man fragte sich, welche Zeiten es gewesen sein müssen, die so unsicher waren, daß man derartige, die Arbeit von Generationen erfordernde Gangsysteme anlegte.
Gerade darüber wissen wir nichts. Hier tappen wir vollkommen im Dunkeln. Obwohl solche Gänge in beträchtlicher Länge erforscht wurden, ist von darin angebrachten Inschriften und Jahreszahlen nichts berichtet worden. Die Annahme, daß das Greizer Gangsystem entstand, als im Jahre 1294 Graf Philipp Greiz verheerte, ist ohne weiteres nicht zu halten. Den Einwohnern einer verheerten Stadt fehlen die Mittel und der Mut, solche über lange Zeiträume sich erstreckende Arbeiten in Angriff zu nehmen. Wenn nicht alte Urkunden oder noch unerforschte Teile der Gänge zuverlässigere Anhaltspunkte geben, werden wir über Alter und Erbauer der Gänge im Unklaren bleiben. Auffällig ist vorallem, daß die unterirdischen Gangsysteme wie ein Festungsgürtel an Sachsens Westgrenze gelagert sind. Auch dafür fehlt vorläufig eine stichhaltige Erklärung.
Man hat sich lange Zeit um die Gänge überhaupt nicht gekümmert. Die wenigsten der Einwohner wußten etwas davon. Bei Werdau z.B. benutzten Müller seit 200 Jahren den Eingang eines solchen Ganges als Bergkeller, ohne nachzuforschen, wie tief er in den Berg hineingeht. In anderen Orten, wie in Gera, wurden die vorderen Teile der Gänge als Bierkeller benutzt. Gedanken darüber, welcher Zeit sie ihre Entstehung verdanken und wie weit sie sich wohl ausdehnen mögen, machte man sich nicht.
Im Sommer 1903 jedoch stiegen zugleich in Lichtenstein und Werdau vom Forscherdrang getriebene Männer mit den nötigen Werkzeugen in die Tiefe, um den Gang zu erkunden, der der Sage nach beide Städte miteinander verbindet. Vom Hofe des Lichtensteiner Schlosses aus ging es über drei Treppen in einen Gang, der sich bald teilte. Er ist, wie fast alle die Ganganlagen Westsachsens, in hartem rotliegenden Gestein gebrochen. Seine in Lehm liegenden Teile sind mit großen altertümmlichen Backsteinen in gotischer Form ausgemauert. Beide Zweige weisen in gewissen Abständen seitliche Nischen auf. Sicher dienten sie dazu, sich vor etwa eingedrungenen Verfolgern zu verbergen und sie zu überfallen. Die stark ausgetretenen Stufen einer langen Treppe lassen auf häufiges Begehen schließen. Der eine Gang endet in einem Schacht von 1,40 m Durchmesser. Obwohl er 15 m hoch ist, erreicht er nicht die Erdoberfläche. Seine oberen zwei Drittel bestehen aus aufeinandergesetzten Feldsteinen. Ein großer Teil der Gänge ist vermauert oder verschüttet. Die Werdauer Forscher drangen in einem drei bis vier Meter hohen Stollen, der einer seit 1702 davorstehenden Mühle als Keller dient, bis in einen größeren, glatt ausgehauenen Raum vor. Da dessen Wände völlig mit Tropfstein überzogen sind, muß er schon manches Jahrhundert bestehen.
Von einem anderen Gang, der von Schönfels bei Werdau aus beginnt, heißt es, daß durch ihn der Ritter von Schönfels mit dem in Altenburg geraubten Prinzen Ernst ins Gebirge flüchtete. Den Greizer Gängen ging man 1908 auf den Grund. In zwei, drei Stockwerken untereinander fand man, vom Markt ausgehend, ein fast die ganze Stadt unterminierendes System von Gängen mit Nischen und Räumen, deren größte gut ein vier dutzend Flüchtlinge aufnehmen konnten. Die Gänge waren zum Teil überschwemmt, sodaß auf das Vorhandensein eines unterirdischen Brunnens geschlossen werden kann.
Am Pfingstsonnabend 1910 wurde man in Glauchau etwas derb an die unterirdische Stadt erinnert. Ohne erkennbare Ursache brach ein Stück der Markstraße an ihrer Einmündung in den Markt in die Tiefe. Gas-, Wasserleitung und Kanalisation wurden beschädigt, ein dreistöckiges Haus mußte sofort geräumt werden. Aber erst im Sommer 1926 wurden die Anlagen durch Diplomingenieur Apel im Auftrag der Stadt näher erforscht. Auch hier hat es sich um Verteidigungsanlagen gehandelt. In der Altstadt wurden von etwa 10 000 m vorhandener Gänge 6000 m erforscht. Von einem angeblich unter dem Marktplatz vorhandenen Versammlungsraum konnte nichts gefunden werden, da die dahin führenden Gänge vermauert oder mit Asche verschüttet sind. Sie liegen 4 bis 15 m unter der Erdoberfläche. Meist sind sie im Rotliegenden ausgehauen, sofern sie aber Lehm durchdringen, ausgemauert. Ob Verbindungen mit den Gängen anderer Stadtteile bestanden haben, kann nicht mehr festgestellt werden. Auch über den Zusammenhang der Gänge der sogenannten Räuberhöhle am Schafteich und im Rümpfwald mit denen der Stadt herrscht Unklarheit.
Deutlich läßt sich aber erkennen, daß fast jedes Haus seine eigene Ganganlage besaß, die oft mit den benachbarten Gängen verbunden war und fast stets einen Fluchtausgang zum Muldenabhang besaß. Der Ausgang sorgte zugleich für Entwässerung, sodaß die Glauchauer Gänge durchweg trocken sind. Vom Hauskeller aus führt in der Regel eine steile Treppe hinunter zu den Gängen, die hier wie in anderen Orten in mehreren Stockwerken angeordnet sind.
Besonders interessant sind die miteinander verbunden Anlagen der Häuser Brüderstraße 17 und 18 mit ihren vielen, besonders langen Treppen und den labyrinthähnlichen Schleifen, in denen sich nur der Kundige zurechtfinden konnte. Seitennischen, Kriechgänge, Wasserbecken und andere Hindernisse erschwerten die Verfolgung.
Besonders schön sind die Glauchauer Schloßgänge in der Form gotischer Spitzbögen. Der eine Zweig dieser Ganganlage mündet unvermittelt im Brunnen. Wohin der andere führte, kann nicht festgestellt werden, da er verschüttet ist.
Außer den genannten Orten weiß man noch von manchen anderen in Westsachsen, daß ihr Boden unterwühlt ist. Unter der Kirche in Meerane, unter dem Schlosse in Waldenburg befinden sich Gänge. In Penig weiß man von Gängen zwei Stockwerke tief. Die Rochsburg bietet dem Heimatforscher noch manche Aufgabe. In Plauen soll ein Gang vom Stadtinnern nach der Dobenauer Kapelle führen. Eine kurze Strecke vom Keller der Sparkasse bis in die Gegend der Lutherkirche konnte begangen werden. Geröll machte ein weiteres Vordringen unmöglich. Wenig ist auch von den Geraer Ganganlagen bekannt. Nachgewiesen wurden Gänge in der Straße Stadtgraben, Mühlengasse, Schloßstraße, auf dem Niklasberg und in der Gegend des alten Schlosses. Anzunehmen ist der Zusammenhang dieser und noch unbekannter oder verschütteter Gänge zu einem System von Gängen als Wehrbau und geheimer Fluchtweg in Notzeiten. Sorgfältige Forschungen, die hier Licht schaffen würden, wurden nicht unternommen. Zahlreich sind auch verbürgte Nachrichten über Gänge in der näheren Umgebung Geras, so z.B. aus Langenberg, Mildenfurth, Cronschwitz.
Wir kennen die Baumeister all dieser Anlagen nicht. Aber wir müssen Achtung vor ihnen haben, wenn wir daran denken, wieviel Schweiß es kostet, mit einfachen Werkzeugen auch nur einen Meter in Fels vorzudringen.

aus „Glückauf! – Zeitschrift des Erzgebirgsvereins“ März 1933