V a f th r u d n i s m à l
Das Wafthrudnirlied
Auch dieses Lied ist eine reich strömende Quelle nordischer Mythenkunde. Ergänzt es so der Seherin Gesicht, so ist doch sein Weltbild ein etwas anderes, mehr volkstümliches. Der Tau träuft hier nicht von der Weltesche, sondern vom Maule eines nächtlichen Himmelsroßes. Die Götter heben die Erde nicht aus der Tiefe empor, sondern schaffen sie, wie auch Meer, Himmel und Wolken, aus dem Leib eines erschlagenen Riesen. Wie der Riesenstamm entstanden ist, wird nach alten Volkssagen genauer erzählt. Die Menschen gehen nicht in dem allgemeinen Weltbrand, sondern in einem verheerenden Winter unter, den nur ein Menschenpaar in einem schützenden Baum überdauert, um Stammeltern eines neuen Menschengeschlechts zu werden, eine auch in Deutschland bekannte Sage. Der Wolf stirbt nicht den Schwerterttod, sondern der rächende Widar zerreißt ihm, wie nach altem Volksglauben, den Rachen.
Das Lied hat die Form der Wissenswette: nicht mit dem Hammer wie Thor, sondern mit der Waffe des Geistes überwindet Odin den Gegner. Als erster fragt der Riese nach Dingen der mythischen Erd- und Himmelskunde. Dann stellt Odin zwölf Fragen, zuerst aus der Vergangenheit, mit der zehnten Frage gleitet der Blick schon auf die Zukunft hinüber. Daß Njörd gerade als Kultgott so wichtig genommen wird, läßt vermuten, daß das Lied aus der Trontheimer Gegend stammt, wo man diesen Gott besonders verehrte. Nach der in anderem Versmaß geformten Schlußfrage der Zwölferreihe wechselt Odin die Eingangsformel und stellt nun Fragen nach den letzten Dingen. Die letzte Frage geht äußerlich auf Vergangenes, zielt aber wohl darauf hin, daß Odin einen Rächer für Balder zeugt und daß Balder in der neuen Welt wiederkehren wird; sie kann der Riese nicht beantworten, und so ist sein Haupt dem Gott verfallen.
Die Zahlen der Fragen scheinen eine tiefere Bedeutung zu haben: der Gruppe der zwölf Fragen entsprechen die zwölf Götterwohnungen im Grimnirliede und die zwölf Asen der jüngeren Seherinnenrede. Mit den sechs Fragen der Schlussgruppe erhalten wir achtzehn Fragen Odins gleich den achtzehn Zauberliedern. Zählt man die sechs Fragen des Riesen dazu, so sind es im ganzen vierundzwanzig Fragen; vierundzwanzig aber war die Zahl der älteren Runenreihe, die im Runenzauber besonders wichtig war.
Genzmer
1 Odin: Rate mir nun, Frigg, da zur Fahrt mich’s drängt nach der Wohnung Wafthrudnirs! Nach dem Urzeitwissen des allweisen Riesen nenn ich groß mein Begehr. |
2 Frigg: Daheim bleiben sollte Heervater in der Rater Reich, da keinen der Riesen an Kräften gleich ich dem Wafthrudnir weiß. |
3 Odin: Viel fuhr ich, viel erforschte ich, viel befragt ich Erfahrene; wissen will ich, wie Wafthrudnirs Saalbau wohl sei. |
4 Frigg: Heil zieh hin! Heil kehr zurück! Heil wandre den Weg! Dein Geist bewähre sich, wenn du, Göttervater, dem Riesen Rede stehst! |
5 Auszog Odin, des allweisen Riesen Klugheit zu erkunden. Zur Halle kam er und zum Heim des Thursen, rasch trat Odin ein. |
6 Odin: Heil dir, Wafthrudnir! In die Halle komm ich, dich selber zu sehn. Wissen will ich, ob du weise bist und dich allwissend bewährst. |
7 Wafthrudnir: Wer ist der Mann, der in meinem Saal sein Wort auf mich wirft? Nimmer kehrst du, bist du der Klügere nicht, aus meiner Halle heim. |
8 Odin: Gagnrad heiß ich, gegangen komm ich hungrig zur Halle dein. Zutritt, Riese, – bin gezogen weit – und Gastgruß begehre ich. |
9 Wafthrudnir: Warum antwortest du vom Eingang her? Komm auf den Sitz im Saal! Dann findet sich’s, ob der Fremdling an Witz übertrifft den Thursengreis. |
10 Odin: Der mindre Mann, der zum mächtigen kommt, spreche gut oder gar nichts: Schwatzhaftigkeit, mein ich, schadet dem viel, der zum Kaltherzigen kommt. |
11 Wafthrudnir: Sage mir, Gagnrad, wenn dein Glück zu erproben auf der Diele du denkst: wie heißt der Hengst, der den hellen Tag über die Volkssöhne fährt? |
12 Odin: Skinfaxi heißt er, der den hellen Tag über die Volkssöhne fährt; kein Roß gilt den Reidgoten mehr, seine Mähne glänzt morgenhell. |
13 Wafthrudnir: Sage mir, Gagnrad, wenn dein Glück zu erproben auf der Diele du denkst: wie heißt das Ross, das den Ratern die Nacht aufzieht von Osten her? |
14 Odin: Hrimfaxi heißt es, das den Hehren die Nacht aufzieht von Osten her; jeden Morgen trauft vom Maul ihm Schaum, davon sind die Täler betaut. |
15 Wafthrudnir: Sage mir, Gagnrad, wenn dein Glück zu erproben auf der Diele du denkst: wie heißt der Fluß, der wider das Volk der Riesen das Götterland begrenzt? |
16 Odin: Ifing heißt der Fluß, der wider das Volk der Riesen das Götterland begrenzt; offen eilen soll er in Ewigkeit, kein Eis setzt er an. |
17 Wafthrudnir: Sage mir, Gagnrad, wenn dein Glück zu erproben auf der Diele du denkst: wie heißt das Feld, wo zur Fehde Surt den Göttern begegnen wird? |
18 Odin: Wigrid heißt das Feld, wo zur Fehde Surt den Göttern begegnen wird; hundert Meilen mißt es hin und wieder; dies ist als Stätte bestimmt. |
19 Wafthrudnir: Ratklug bist du, Gast! Komm auf des Riesen Bank! Sprich auf dem Sitz im Saal! Laß ums Haupt uns in der Halle wetten, Fremdling, auf Vielkunde! |
20 Odin: Sage mir zum ersten, wenn deine Einsicht taugt und du, Wafthrudnir, es weißt: woher kam die Erde und oben der Himmel, ratkluger Riese, einst? |
21 Wafthrudnir: Aus Ymirs Fleisch ward die Erde geschaffen, aus dem Gebein das Gebirg, der Himmel aus dem Schädel des schneekalten Riesen, die Brandung aus dem Blut. |
22 Odin: Sage mir zum andern, wenn deine Einsicht taugt und du, Wafthrudnir, es weißt: woher mag der Mond, der über die Menschen geht, und die Sonne wohl sein? |
23 Wafthrudnir: Mundilfari heißt er, er soll des Mondes Vater und der Sonne sein; sie ziehen täglich, zum Zeitmaß den Menschen, über den Himmel hin. |
24 Odin: Sage mir zum dritten, wenn man bedacht dich nennt und du, Wafthrudnir, es weißt: woher kam der Tag, der über die Täler geht, und die Nacht mit dem Neumond? |
25 Wafthrudnir: Delling heißt er, von diesem stammt der Tag, doch Nör hat die Nacht gezeugt; Vollmond und Neumond, den Völkern zum Zeitmaß, schufen gütige Götter einst. |
26 Odin: Sage mir zum vierten, wenn man erfahren dich nennt und du, Wafthrudnir, es weißt: woher kam der Winter und der warme Sommer einst ins Asenreich? |
27 Wafthrudnir: Windswal heißt er, er ist des Winters Vater, doch der Sommer ist Swasuds Windswal war … Sohn; dem Wasud entsprossen, frostig ist all das Volk. |
28 Odin: Sage mir zum fünften, wenn man erfahren dich nennt und du, Wafthrudnir, es weißt: wer erwuchs in der Vorzeit von Ymirs Stamm und den Asen als ältester? |
29 Wafthrudnir: Vor unzähligen Wintern, eh die Erde geschaffen, war geboren Bergelmir; Thrudgelmir war des Thursen Vater, doch Aurgelmir sein Ahn. |
30 Odin: Sage mir zum sechsten, wenn man sinnreich dich nennt und du, Wafthrudnir, es weißt: woher kam Aurgelmir, der urweise Thurse, einst zu der Riesen Reich? |
31 Wafthrudnir: Aus den Eliwagar flogen Eistropfen, aus den Tropfen der Thurse wuchs; unsre Sippen stammen dort alle her, drum ist’s ein schlimm Geschlecht. |
32 Odin: Sage mir zum siebenten, wenn man sinnreich dich nennt und du, Wafthrudnir, es weißt: wie zeugte Kinder der kühne Riese, da er kein Weib gewann? |
33 Wafthrudnir: Knabe und Mädchen wuchsen dem kühnen Thursen unterm Arm vereint; der Fuß mit dem Fuß des Vielweisen zeugte den sechshäuptigen Sohn. |
34 Odin: Sage mir zum achten, wenn man dich einsichtig nennt und du, Wafthrudnir, es weißt: was weißt du als frühestes? was weißt du als fernstes? Allwissend bist du wohl. |
35 Wafthrudnir: Vor unz“hligen Wintern, eh die Erde geschaffen, war geboren Bergelmir; als frühestes weiß ich, daß den vielklugen Riesen auf den Mahlkasten Männer legten. |
36 Odin: Sage mir zum neunten, wenn die Vernunft dir taugt und du, Wafthrudnir, es weißt: woher kommt der Wind, der über die Wogen geht? Niemand sieht ihn selbst. |
37 Wafthrudnir: Hräswelg heißt er, er sitzt an Himmels Rand, der Jöte, in Aargestalt; von des Riesen Flügeln über die Völker alle sollen die Winde wehn. |
38 Odin: Sage mir zum zehnten, wenn die Zukunft der Götter du, Wafthrudnir, weißt: woher kam Njörd nach Noatun, da er bei den Asen nicht aufwuchs? |
39 Wafthrudnir: In Wanenheim schufen ihn weise Rater als Geisel fürs Götterreich: beim Weltende wird er wiederkehren zu den weisen Wanen einst. |
40 Odin: Sage mir zum elften, wer in Odins Hof kämpft Tag für Tag; sie kiesen die Wal, reiten vom Kampfe heim, sitzen beisammen versöhnt. |
41 Wafthrudnir: Alle Einherjer in Odins Hof kämpfen Tag für Tag; sie kiesen die Wal, reiten vom Kampfe heim, sitzen beisammen versöhnt. |
42 Odin: Sage mir zum zwölften, woher die Zukunft der Götter du, Wafthrudnir, weißt! Der Rater und Riesen Runenkunde weisest du fürwahr, ratkluger Riesengreis! |
43 Wafthrudnir: Der Rater und Riesen Runenkunde kann ich weisen fürwahr, da ich alle Welten durchwallt; zog zu neun Heimen bis Nifelhel nieder, wo der Gestorbnen Stätte ist. |
44 Odin: Viel fuhr ich, viel erforschte ich, viel befragt ich Erfahrene: wer lebt von den Menschen, wenn der mächtige Winter auf Erden enden wird? |
45 Wafthrudnir: Lif und Lifthrasir, ihr Leben bergen sie im Holze Hoddmimirs; Morgentau wird ihr Mahl dort sein, sie pflanzen die Völker fort. |
46 Odin: Viel fuhr ich, viel erforschte ich, viel befragt ich Erfahrene: wie kommt eine Sonne an den klaren Himmel, wenn diese Fenrir erfaßt? |
47 Wafthrudnir: Eine Tochter hat die Tagesleuchte, eh sie Fenrir erfaßt; reiten soll sie, wenn die Rater sterben, der Mutter Bahn, die Maid. |
48 Odin: Viel fuhr ich, viel erforschte ich, viel befragt ich Erfahrene: wer sind die Mädchen, die übers Meer schweben – voll Weisheit wandern sie? |
49 Wafthrudnir: Drei starke Ströme stürzen übern Hof der Mädchen Mögthrasirs; Schutzgeister sind sie dem Geschlecht der Menschen, wohnend in der Riesen Reich. |
50 Odin: Viel fuhr ich, viel erforschte ich, viel befragt ich Erfahrene: wer soll herrschen in den Heimen der Asen, wenn Surts Lohe erlosch? |
51 Wafthrudnir: Widar und Wali sollen im Weihtum hausen, wenn Surts Lohe erlosch; Modi und Magni sollen Mjöllnir führen nach dem Tode Thors. |
52 Odin: Viel fuhr ich, viel erforschte ich, viel befragt ich Erfahrene: wer wird Odin das Ende bringen, wenn die Götter vergehn? |
53 Wafthrudnir: Walvater wird der Wolf verschlingen; ihn rächt Widar am Wolf: den grimmen Rachen soll zerreißen er zum Ende dem Ungetüm. |
54 Odin: Viel fuhr ich, viel erforschte ich, viel befragt ich Erfahrene: was sagte Odin dem Sohn ins Ohr, eh man auf den Holzstoß ihn hob? |
55 Wafthrudnir: Nicht einer weiß, was in alten Tagen deinem Sohn du gesagt! Verfallen dem Tod, erzählte ich Vorzeitkunde und von der Asen Untergang! Mit Odin maß ich mein Allwissen: du bleibst der Wesen Weisester! |