20 Tage im 13. Jahrhundert
Was treibt eine Stadträtin und sonst freie Fotografin nebst einem Mediengestalter dazu, in ihrem Urlaub knapp drei Wochen ihre Tage damit zu verbringen, bei 30° C im Schatten (so der zu finden wäre) Lehm zu stampfen und danach mit diesem diverse Hauswände zu verkleistern? Und zwischendurch statt einer Reinigung unter der Dusche ein paar Züge schwimmen in der nahen Zschopau. Trinkwasser gibt es – querfeldein betrachtet – etwa 400 Meter diagonal hangabwärts an einer Quelle im Wald. Für die tägliche Notdurft finden sich 1 x 1 Meter Holzbau, auch Herzhäuschen genannt, welches selbst bei Neumond und dichtem Nebel so etwas wie ein Riechturm für die Nasen aller Bedürftigen die mehr oder weniger dringend notwendig gewordene Richtung weist.
Aber der Reihe nach. Es begann mit dem Heerbann 2002 auf dem „Treppenhauer“ in Sachsenburg bei Frankenberg, und es war Liebe auf den ersten Blick. Seit etwa zehn Jahren wird mit bislang mehr oder weniger Erfolg am Ansatz der Rekonstruktion der einstigen Bergstadt Bleiberg gewerkelt – sichtbar geworden durch derzeit acht Häuser, in Gestalt von Grubenhäusern, Blockhäusern und dem Bergmeisterhaus in Blockbohlenbauweise. Die Inspiration dieses Tuns findet sich heute etwa 500 Meter weiter oberhalb in Gestalt rechteckiger oder quadratischer Mulden – Spuren einstiger Grubenhäuser oder den Resten von flachen Steinfundamenten in denen die Pfostenlöcher noch sichtbar sind. Letztere Spuren wurden erst durch Ausgrabungen freigelegt. Dass es sich um eine Bergstadt handelte wird an der Menge tiefer Einbruchtrichter einstiger Schächte ersichtlich. Und die Größe dieses Areals, teils noch von einem Verteidigungsgraben umgeben, lässt eindeutig auf eine Stadt schließen, von der zudem bekannt ist, dass sie sogar eigenes Münzprägerecht besaß. Überliefert ist, dass in und um die Stadt Blyberge ab 1220 ursprünglich nach Silber gegraben wurde. Es fand sich allerdings überwiegend Blei. Ab etwa 1350 wurde die Stadt wieder wüst. Warum ist unbekannt. Eine Sage berichtet, dass Gott die Menschen dieses Ortes wegen ihres Reichtums und daraus abzuleitenden ausschweifenden Lebenswandels damit strafte, dass er das Gestein taub werden ließ.
Zurück zum Aussteigerwahn im 21. Jahrhundert bzw. zur Liebe auf den ersten Blick: Meine Frau Claudia wie auch ich traten im Januar dem Verein „Mittelalterliche Bergstadt Bleiberg e.V.“ bei, nicht um selbst nach Blei zu graben, sondern um eines der Häuser zu bewirtschaften wie auch Lebensweise fernab moderner Zivilisation zu pflegen – für Zeiten zumindest. Wir hatten damals die Wahl zwischen einem fast fertiggestellten Blockhaus unmittelbar neben der bereits betriebenen Schmiede und einem im Jahr zuvor im wahrsten Sinne des Wortes der Scheiße entrissenen Grubenhaus. Dieses hatte zuvor vornehmlich in den Wintermonaten als Schaf- und Ziegenunterkunft gedient und harrte, nunmehr entmistet, einer zweckentsprechenden Nutzung. Während sich meine Frau noch unentschlossen zeigte, trafen unsere jüngste Tochter wie auch ich eine spontane wie intuitive Wahl – das Grubenhaus. Es sollte sich als die richtige Entscheidung erweisen, wenngleich ich mich im Umfang der noch erforderlichen Arbeit zu diesem Zeitpunkt auf das Gröblichste verschätzte. Das Wochenende der Frühlings-Tagundnachtgleiche nutzten wir für den Start erster wie notwendiger Aktivitäten. Es war sonnig, aber kalt, nachts und ohne Sonne selbst im Haus noch weit kälter – logisch. Die Nachtluft zog durch alle Ritzen, und wir froren erbärmlich.
Claudia hatte und hat die Vision von einem Wolle-Haus – alles was mit Spinnen, Färben und Weben zu tun hat. Sie kümmerte sich indes aber vorerst um die Urbarmachung eines Fleckens am Haus, welcher sich so bald als möglich zum Kräutergarten entwickeln sollte. Und an dieser Stelle sollte ich vielleicht etwas zur Oberflächengeologie dieses Geländes einflechten. Unter einer noch teils frostgebundenen Grasnarbe zeigen sich nach deren mühevoller Entfernung zunächst zwischen Andeutungen der Bodenkrume Steine – kleinere und größere, aber hauptsächlich viele. Und selbst frostfreier Boden stellt sich mit einer solchen Mischung dem Gebrauch eines Spatens nachhaltig entgegen.
Und während alle anderen verfügbaren Kräfte mit der Hacke diesem mühevollen Geschäft nachgingen, begann Sven, der Schmied, mit meiner Unterstützung den Bau eines Schauers am Haus, unter dem – perspektivisch betrachtet – einmal auf einem Herd, errichtet aus Lehm und Flusskieseln, Schafwolle einmal zum Waschen und zum anderen zum Färben köcheln sollte. Und das war zu diesem Zeitpunkt zu weit voraus gedacht. An einem weiteren Wochenende – es hielten sich gerade viele Freunde, Sympathisanten wie Vereinsmitglieder des Treppenhauer daselbst auf – errichteten wir innerhalb von 12 Stunden in einer kräftezehrenden Aktion den Rohbau eines Backhauses über dem bereits vorhandenen Backofen. Unabhängig davon und ganz nebenbei breitete sich der Aufwand des noch am „eigenen“ Haus zu Erledigenden vor dem inneren Auge aus.
Einen einfachen Tisch und provisorische Bänke für den Aufenthaltsbereich im Haus hatte ich bereits angefertigt, aber durch die Ritzen der Bohlen zwischen den Pfosten zikulierte die Luft, durch das ebenso noch unverlehmte Weidengeflecht an den Giebelseiten sowieso. Man wusste oben auf dem Schlafboden immer zu zu jeder Nachtzeit um die draußen angesagten Windstärken wie Temperaturen. Und so erleuchtete uns folgerichtig die Entscheidung, unseren Urlaub in der Historie anzusiedeln. Es stellte sich heraus, dass wir nicht als einzige dergestalt erleuchtet wurden. Wir bildeten in jenen 20 Tagen ein Team, bestehend aus Frauen, Männern und Kindern, insgesamt elf, zum einen in und um die Schmiede und zum anderen in und um das „Wollehaus“, begleitet von zehn ABM-Kräften, die sich seit dem 1. Juli den größeren Aufgaben widmeten. Die erste Priorität galt dem Lehmbau, sowohl als komplettierendes wie auch erweiterndes Element, letzteres in der Schmiede, bei uns in primärer Bedeutung. Das Wetter war schön, bis auf drei Tage, an denen in Folge jeweils pünktlich zum Frühnachmittag Gewitter aufzogen. Wir stellten fest, dass unser Dach mehr als undicht war – Leben unter der Gießkanne. Danach gestaltete sich das Wetter anhaltend stabil. Manche mögen diese Tage als heiß bezeichnen. Ich bemerke dazu, es war entsetzlich heiß. Überhaupt erübrigen sich über den Sommer in Mitteleuropa im Jahre 2003 zusätzliche Kommentare.
Sven hatte begonnen, hinter der Schmiede eine Zisterne zu graben und so nebenbei den benötigten Lehm zu gewinnen. Mit fortschreitendem Lehmverbrauch wuchs die Zisterne nach unten bis in eine für Ortsunkundige im Nachtdunkel verhängnisvolle Tiefe. Schubkarre um Schubkarre voller Lehm füllte Bottiche und geriet dort unter Zusatz von Stroh wie notwendiger Zugabe von Wasser und kräftigem Durchtreten zu einem zähen Brei. Angesichts des vorherigen Aufwandes ist es ernüchternd, wie schnell so ein Bottich wieder leer ist. Eine weitere unangenehme Begleiterscheinung ist das Aufweichen der Fingernägel, die anschließend bis zur Schmerzempfindlichkeit abbrechen. Bevor man Lehm auf eine relativ glatte Fläche wie Holzbohlen aufbringen kann, sollte man zuvor aus geeigneten Ästen Holznägel schneiden, nicht zu vergessen, dass man vorher die erforderlichen Aufnahmelöcher ins Holz bohrt. Für diesen Part gestattete ich mir ganz unmittelalterlich den Luxus einer Bohrmaschine. Es waren so ziemlich exakt bisher 970 Löcher wie Holznägel, und es sind bis jetzt drei viertel der Wände verlehmt. Man ergänze der Vollständigkeit halber die beschriebenen Tätigkeiten mit den vorherrschenden Temperaturen. Angenehme Unterbrechungen dieses masochistischen Tuns erwuchsen aus gemeinsamen Bädern in der Zschopau und abendlichen Runden am Feuer unter Beimengungen von Geschichten samt Rotwein oder Bier. Claudias Garten hatte sich mittlerweile zu einer blühenden Oase gemausert und lieferte Gemüse wie auch Gewürzkräuter für gemeinschaftliches Kochen. Ich sammelte nach wie vor Erfahrungen mit textilbewehrtem Lehm (wie bringt man eine Hose auch ohne Inhalt zum Stehen), Claudia in logischer Folge mit dem über offenem Feuer rußgeschwärzten Wäschekochkessel, der ihr soeben gewaschenes und getrockenetes mittelalterliches Hausgewand unübersehbar für eine erneute Wäsche reifen ließ.
Und Hund Charlie absolvierte allmorgendlich seine Inspektionsrunden im Gelände.
Drei Tage vor Ablauf unserer urlaubsdefinierten Zeit erfasste mich eine Lehmallergie – schon rein optisch – vom noch unabgestochenen Rohlehm in der Tiefe der Grube ganz zu schweigen, den zu fördern unter den obwaltenden klimatischen Bedingungen ein physisches Desaster in Gestalt eines Kollaps als locker erreichbares Nahziel in Aussicht stellte. Ungeachtet meiner sich manifestierenden Lehmaversion folgte Claudia in ihrer praktischen Natur den theoretischen Überlegungen Ivans, wie sich eine Lehmwand durch Schlussverputz rissfrei gestalten lässt. Hier das Resultat: Man nehme gut durchgeweichten wie entsprechend verdünnten Lehm, gebe einen guten Teil Holzasche hinzu und reibe dieses auf die hinreichend getrocknete Wand. Das Resultat ist ein nahezu steinharter wie rissfreier Putz.
Und nach all dem Geschilderten stehe ich nun im Erklärungsnotstand überzeugend zu vermitteln, dass dies unser bisher irrster wie auch schönster Urlaub war; ein Urlaub ohne Reisebüro, Flug, Strand, Bars, Fernsehen, Zeitung und all dem, was man nicht wirklich braucht. Es ist das unbeschreibliche Gefühl, unter den eigenen Händen etwas Gestalt werden zu lassen, auszuprobieren, zu finden und letztlich ein Heim zu schaffen in einer Welt auf Zeit. Das Gleichmaß der Tage schafft Ruhe in einem selbst. Ich fühlte mich im wahrsten Sinne des Wortes rundum gesund. Es sind nicht zuletzt die Erlebnisse „am Rand“ innerhalb einer solchen Gemeinschaft, wie beispielsweise der Ansatz zweier Kohlemeiler, die das Erinnern kostbar bis köstlich werden lassen. Ein Schmied braucht entweder Koks oder Holzkohle. Holz lag nach der Auslichtung eines Eichenbestandes in der erforderlichen Stärke genügend im Wald. Stämmchen wurden auf Länge gesägt und um den so genannten Kamin aus trockenem Nadelholz geschichtet sowie zum Schluss bis auf eine obere Öffnung mit Erde abgedeckt. Der besseren Entflammung wegen krümelte Ivan Kohleanzünder in den Kamin. Er hatte sich das ebenfalls unmittelalterliche Feuerzeug von Heike geliehen und warf dieses mit dem Kohleanzünder ganz automatisch mit hinein. Als der Meiler dann mittels einer anderen Feuerquelle entflammt wurde, dauerte es etwa 30 Sekunden.
Der Dreckhaufen blähte sich kurz auf, und es wirkte optisch wie akustisch, als hätte ein Minivulkan Raucherhusten. Es wurde jedenfalls hervorragende Holzkohle, in dessen Feuer dem Sven in einem kurzen Moment der Abwesenheit ein Stück Eisen wegschmolz. Und aus all dem erwuchs spontan ein neues Projekt: Konstante Köhlerei samt Köhlerhütte, welche noch während unseres Urlaubs ihre Fastfertigstellung erlebte. Im nächsten Jahr warten andere, gemeinschaftliche Bauvorhaben auf uns, und dieser Urlaub wird sich in ähnlicher Form wiederholen. Vielleicht sitzen wir dann, die wir gemeinsam schwitzten und schufteten und überhaupt viel Spaß miteinander hatten, zum Abschluss nicht mehr feiernd an einer Tafel auf freier Wiese, sondern an gleicher Stelle in der Taverne „Zum Kuckuck“.
Text vom Wogenwolf
Fotos von Nicole