Halbschuhe

Halbschuhe aus Hirsch- / Rindsleder

Ich rate jedem Wahnsinnigen, der denkt, er muß unbedingt Schuhwerk selber bauen, zuvor sich in kleineren, überschaubareren Objekten zu üben, seine Arbeitswut zu kühlen. Das ist nicht ohne Grund gesprochen. Sachen wie der Geldbeutel, die Gürteltasche und der Köcher sind ein Kinderspiel im Vergleich mit Schuhen – von Stiefeln ganz zu schweigen. Diese Aufgabe erfordert eine Menge Selbstdisziplin und Opferwillen.
Schuhmacherei gefährdet Ihre Gesundheit, weil man die Nahrungsaufnahme und andere essentielle Bedürfnisse einfach vergißt. Schuhmacherei gefährdet Ihre Beziehung, weil jegliche Kommunikation zum Erliegen kommt und niemand im Stande ist, Sie aus dieser Art Trance zu reißen. Nicht Ihr Partner, nicht Ihre Kinder oder sonstige Haustiere. Ihre Umgebung wird Sie meiden, da es das zwischenmenschliche Beisammensein nicht eben positiv beeinflußt, wenn man ständig in Nadeln tritt und sich eingewachste Fäden und Lederschnipsel im Wohnzimmer ausbreiten. Rechnet mit schwerwiegenden Konsequenzen oder laßt es bleiben.
Nach dieser Warnung aber nun endlich zum Thema:
Wie baut man sich mittelalterliche Schuhe?
Es ist ratsam, sich an die Arbeitsschritte wie in „Grundsätzliches zur Lederbearbeitung“ beschrieben zu halten. Besonders sorgsam ist bei der Erstellung der Schnittmuster vorzugehen, weil sich etwaige Ungenauigkeiten oder Schlampereien nicht mehr revidieren lassen. Das führt dazu, daß die gesamte Arbeit unbrauchbar wird, die bis zum Bemerken geleistet worden ist. Konzentration!
Schnitte mache ich in zwei Schritten: Einen ersten groben aus Papier, um erst mal eine Vorstellung der Ausmaße zu bekommen und zu wissen, an welchen Stellen Probleme auftreten können, wo Nähte besonders beansprucht werden, mehr Nahtzugabe erforderlich ist etc. Auch merkt man hier schon, aus wie vielen Teilen der Schuh bestehen muß, wo die Nähte am günstigsten liegen.
Papier läßt sich aber nur in gewissen Grenzen als Lederersatz verwenden, weshalb ich einen zweiten Schnitt aus grobem, steifem Stoff mache (Jeans o.ä.), wo die letzten Feinheiten definiert werden.
Ein Schuh besteht aus den Teilen SOHLE (5-6 mm starkes Rindsleder, ziemlich hart und elendig steif), BRANDSOHLE (weich, aber zäh und enorm reißfest, ebenfalls vom Rind) , OBERLEDER (weich und geschmeidig, dehnbar, im Beispiel Hirschleder). Letzteres gliedert sich in KAPPE und SPITZE .
Die Größe der Sohle wird bestimmt, indem man seine Füße auf einen Bogen Papier stellt und die Kontur 1:1 überträgt. Sodann zieht man darum eine zweite Linie in o.5 cm Abstand. Das ist die Nahtzugabe. Auf Höhe des Knöchels macht man eine Markierung in die Mitte der Sohlenzeichnung, ebenso auf Höhe des Ballens. Durch diese zwei Punkte zieht man eine Gerade, die also in Längsrichtung des Fußes die Mittelachse angibt. Darauf liegt die Spitze des Schnabels. Die Länge des Schnabels variiert historisch zwischen einer halben Fußlänge und deren drei (Vorrecht der oberen Adelsschichten, beim Laufen hinderlich und oft aus diesem Grund nach oben an Gürtel oder Bein befestigt).
Entscheidet sich jemand für die Prestigeausführung und will fortan auf „großem Fuß“ leben, sollte die Sohle anstückeln, um nicht unnötig große des wertvollen Materials zu verschwenden. Oberleder und Brandsohle dagegen würde ich aus einem Stück machen, weil sie die Festigkeit bringen. Kurze Sohlen bis insgesamt zur doppelten Fußlänge können ruhig aus einem Stück geschnitten werden. Also markiert man sich die gewünschte Schnabellänge auf der Mittelachse der Sohle und verbindet diesen Punkt gerade oder in leicht nach außen gewölbtem Bogen mit der linken und rechten Außenlinie der Fußgrundfläche.
Die Brandsohle wird ähnlich entworfen mit dem Unterschied, daß hier eine Nahtzugabe von 1 cm ratsam ist (das lehrte mich langjährige Erfahrung: Sollte sich das Oberleder durchscheuern oder aus der Sohlennaht reißen, kann man es ein zweites Mal an der Brandsohle befestigen, ohne daß der Schuh kleiner wird, da es hier um zwei Nahtbreiten überlappt. Die Brandsohle hält weiterhin an der Sohle. Der Schuh ist gerettet.). Außerdem -das ist eminent wichtig- muß die Brandsohle im Schnabelbereich (und nur dort!!) kürzer sein als die Sohle, sonst steht der Schnabel nicht von selbst, sondern hängt schlaff in den Straßenstaub – ein eher peinlicher Anblick, da solcherlei Beschuhung auch immer mit der Spannkraft des Trägers in Verbindung gebracht wurde (jedenfalls im Mittelalter). Pro Fußlänge des Schnabels empfehle ich zwei Zoll kürzer zu bleiben, dann ringelt sich der Schnabel richtig schön nach oben und hinten. Aber das ist Geschmackssache. Ein Zoll tut`s auch, nur nicht weniger. Wie gehabt auf der Mittelachse der Brandsohle die Länge antragen, verbinden, fertig.
Was ich noch vergessen habe: Es werden grundsätzlich nur die Schnittmuster von EINEM Fuß abgenommen. Für das Gegenstück dreht man die fertigen Schnitte spiegelverkehrt. Damit keine Verwechslungen auftreten, muß vorher auf allen Schnitten die Seite vermerkt werden. Stelle ich also meinen rechten Fuß auf`s Blatt, bekommt das es auf diese Seite ein R, auf die Unterseite ein L. Bei Spitze und Kappe wird zusätzlich die Innenseite markiert. Was nämlich rechts innen, ist links außen! So kommt man nie durcheinander, weiß immer, wie man die Teile miteinander verbinden muß. Natürlich taucht der jeweilige Buchstabe auch auf den zugeschnittenen Lederstücken auf…
Nun zur Spitze. Die Spitze ähnelt in ihrer Form einem V. Die Länge der Schenkel (s) soll so bemessen werden, daß die Nahtstelle von Spitze und Kappe (übrigens zwiegenäht) noch vor dem Knöchel des Fußes zu liegen kommt. Daher ist es notwendig, sich die Stelle der Naht zuvor auf der Sohlenschablone (und auch auf der Brandsohlenschablone, kann nie schaden) zu markieren. Der Teil des Sohlenumfanges von diesen Punkten bis jeweils zur Spitze der Sohle entspricht der Schenkellänge s. Wenn man bisher genau gearbeitet hat und keine schiefen Füße hat, müßte der linke Umfangsteil gleich dem rechten sein (siehe Schnittmuster). Als nächste Größe müssen wir nun h ermitteln, um das Schnittmuster für die Spitze fertigzustellen. H gibt die Höhe des Schuhes an und legt letztendlich fest, ob wir einen Halbschuh, angespitzte Stiefeletten oder Schnabelstiefel fabrizieren. Bei den Halbschuhen wie im Bild 1 wählte ich 6 cm (zuzüglich Naht). Immernoch fehlt uns ein Maß: p, die Spannhöhe. Der Spann ist quasi der Nasenrücken des Fußes. Es nützt nichts, einen tollen Schuh gemacht zu haben, wenn er über den Spann so flach ist, daß man ihn nicht tragen kann. P wird einfach mit einem Maßband am Fuß gemessen, und zwar an der Stelle, wo die Öffnung (das Maul) im Schuh anfangen soll ( Skizze 1 ). Nicht zu weit hinten, sonst wird das Maul zu klein und man kann seinen Fuß nicht in den Schuh stecken, und nicht zu weit vorne, sonst schlappt der Schuh beim Laufen vom Fuße (oder man muß noch ein Querriemchen mit Schnalle anbringen). Im Beispiel beträgt die Entfernung von großer Zehenspitze bis zur p-Linie 3 œ Zoll (8-9 cm). P definiert, wie weit sich die Schenkel des Vs öffnen.
Das Fersenstück ist eigentlich nur ein rechteckiger Lederfleck. Um einen Hauch von mittelalterlicher Mode hineinzubringen, gibt man der Oberkante zur Mitte hin einen Zipfel, was auch beim Anziehen eine Hilfe bietet. Wichtig ist nur, daß f die restliche Strecke um die Ferse herum abdeckt, die noch geblieben ist. Am Fersenstück oder der Kappe muß beidseitig eine doppelte Naht zugegeben werden. Das verleiht dem Schuh noch ein wenig mehr Seitenstabilität.
Jetzt kommt das Einteilen der Löcher, was etwas mathematisches Verständnis voraussetzt (nicht allzu viel, ich hab`s ja schließlich auch hingekriegt). Was in den Skizzen mit den selben Buchstaben bezeichnet ist, muß zwangsläufig die selbe Anzahl von Löchern erhalten. Die Löcher sollten nicht enger als o.5 cm beisammenliegen. Man zersticht sich unnötigerweise das Leder und macht sich doppelten und dreifachen Aufwand. Vor allem hier wichtig: Die Brandsohle muß ebenfalls die selbe Anzahl Löcher bekommen wie die Sohle, obwohl sie kürzer ist!!! Im Bereich des Schnabels (und bitte nur dort!) rücken die Löcher näher zusammen!!! An die doppelte Überlappung von Spitze und Kappe denken, sonst sticht man 4 Löcher zuviel in die Sohle! Das unterste Loch bei diesen beiden Stücken ist das für die Sohlennaht!
Wie ich kurz in „Grundsätzliches zur Lederbearbeitung“ geschrieben habe, wird das starke Sohlenleder VOR dem Stechen der Löcher tüchtig in kaltem Wasser eingeweicht. Auch die Gründe hierfür habe ich bereits genannt. Was noch nicht gesagt wurde, ist die Anleitung zum Setzen des Sohlenschnittes. Handwerkern unter euch wird diese Technik schon bekannt sein, allen anderen sei sie hier noch einmal erläutert:
Man ergreift mit der linken Hand das Werkstück -in unserem Fall die Sohle- und mit der rechten das Messer (es sei denn, man ist Linkshänder, dann natürlich andersherum). Letzteres geschieht in einer Weise, daß das Werkzeug wie ein Stift zum Schreiben in den Fingern liegt (Daumen und Zeigefinger halten den Stift und pressen ihn gegen den Mittelfinger, der das Utensil von unten unterstützt). Mit einem kleinen Unterschied: Daumen und Zeigefinger müssen das Messer allein halten und führen! Der Mittelfinger wird dazu gebraucht, die Kante der Sohle abzutasten und die Schneide des Messers in konstantem Abstand (etwa 3 mm von der Kante) und konstanter Schräglage (ca. 60° zur Waagerechten) zu halten. Nun muß die linke Hand einen gewissen, gefühlvollen Gegendruck zur rechten ausüben, damit das Messer schneidet. Der Druck bestimmt die Schnitttiefe! Zwei Drittel der Materialstärke sollte diese betragen (siehe hierzu Skizze 2 ). Grundvoraussetzung für ein erfolgreiches Voranschreiten der Arbeit ist scharfes Werkzeug!

Zur Wiederholung:
1) Löcher einteilen
2) Sohle einweichen
3) in der Zwischenzeit Löcher in die Teile stechen, die trocken verarbeitet werden (Brandsohle, Spitze, Kappe)
4) Sohlenschnitt setzen
5) Löcher in Sohle stechen

Nachdem diese Hürde genommen ist, kann das Nähen beginnen. Für einen Schuh braucht ihr ungefähr (das ist gut gerechnet) 15 Meter Hanfzwirn der Stärke o.6 mm. Man fängt an der Spitze an, wo es am engsten ist. Ihr habt euch für eine sehr elegante, handwerklich meisterhafte Schuhlösung entschieden, bei der das Spitzenteil aus einem Stück besteht. Das macht beim Nähen zuallererst Übel. Hinterher wird euch jeder um so ein Kunstwerk beneiden. Natürlich geht es auch einfacher. Man teilt das Spitzenteil entlang seiner Symmetrieachse und gibt wiederum Naht zu. Dann näht man linkes und rechtes Spitzenteil separat an und schließt erst zum Schluß und von außen die Naht über dem Spann. Wer sich noch nicht zu Höhenflügen aufschwingen kann, ist mit dieser Abart besser beraten. Wer sich dagegen berufen fühlt, den Kunsthandwerkern vergangener Größe nachzueifern, wird es sich nicht nehmen lassen, das Spitzenteil wie angegeben ungeteilt zu verarbeiten. Hier näht man mit zwei Paar Nadeln, die alle im vordersten Löcherpaar verknotet werden. Zwei Nadeln schließen die Naht im Uhrzeigersinn, zwei dagegen. Das ist leider unumgänglich, weil man immer nur 5,6 Stiche machen kann. Dann muß man wechseln und mit dem anderen Paar weitermachen. Tut man dies nicht, kommt man weder mit Hand oder Fingern noch Nadel an die Löcher, die ja auch noch in der richtigen Reihenfolge und Richtung durchstoßen werden wollen ( Skizze 3 ).
So arbeitet man sich langsam aber stetig links und rechts gleichzeitig am Schuh entlang Richtung Ferse. Endlich ist es soweit, die Kappe festzumachen (bitte an beiden Seiten die doppelte Löcherreihe übereinander legen). Jetzt kann man nochmal die Anzahl der verbleibenden Löcher überprüfen. Stellt sich heraus, daß in der Kappe eins oder zwei zuviel sind, überspringt man diese und zurrt das weichere Kappenleder an diesen Stellen richtig an. Der entstehende Höcker ist vernachlässigbar und verschwindet unter der Brandsohle. Sollten Löcher zuwenig vorhanden sein, dehnt man die Kappe ein bißchen und sticht zwischen zwei je ein weiteres, bis die Zahl stimmt. Danach geht`s weiter um die Ferse herum. Vorsicht: Laßt die Fäden sich nicht genau in der Mitte treffen, das nifft häßlich. 2-3 cm daneben ist in Ordnung. Alsdann die doppelte Naht an der Seiten in Angriff nehmen. Oben am Saum beginnen und in einer Reihe nach unten arbeiten, an der Brandsohle umkehren und in der zweiten Reihe nach oben, verknoten, geschafft.

Der Schuh sieht jetzt schon richtig aus wie ein solcher. Fehlt nur noch der Saum. Bei weichem Leder dehnt sich sonst vom An- und Ausziehen und Tragen das Maul unerwünscht, bei härterem scheuert die Schnittkante an der Haut, auch nicht gerade angenehm. Also nähen wir noch einen schmalen, langen Lederstreifen der selben Sorte wie das Oberleder über die Kante der Öffnung, indem man vorne im Maul des Schuhes beginnt (und am Ende nach einer Runde wieder dort ankommt) und der Streifen innen und außen um die Schnittkante gebogen wird und durchgenäht.
Wer es bis hierher geschafft hat, dem gebühren Anerkennung und Respekt.
Von mir schon mal im Voraus.

Loke Klingsor